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Das Schweigen brechen: Die Erfahrungen von Romnja in der Roma-Bürgerrechtsbewegung

Dr. Anna Mirga-Kruszelnicka und Dr. Angéla Kóczé

Dr. Anna Mirga-Kruszelnicka und Dr. Angéla Kóczé sind Mitglieder des kuratorischen Teams des Archivbereichs zur Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma bei RomArchive.

 

Warum ich schreibe?
Weil ich muss.
Weil meine Stimme,
In all ihren Dialekten,
Viel zu lange schwieg.“ – Jacob Sam-La Rose[1]

In diesem Gedicht spiegeln sich die historischen, sozialen und politischen Erfahrungen der Romnja in Europa. Über die Erfahrungen der Frauen in der Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma zu schreiben, heißt, ein jahrhundertealtes Schweigen zu brechen. Aber gerade weil sie „viel zu lange schwiegen“, fühlen wir uns verpflichtet, über die Erfahrungen von Romnja zu sprechen. Das RomArchive bietet uns die außergewöhnliche Möglichkeit, zu schreiben und unsere Stimme zu erheben – ja, sie als eine verlorene zunächst einmal wiederzufinden, sie uns zurückzuerobern und ihr im Kampf mit den Stereotypen und Vorurteilen gegenüber Romnja ebenso wie im Kampf gegen das Patriarchat zu ihrem Recht zu verhelfen – ob es sich dabei nun um das Roma-Patriarchat oder ein anderes handelt.

Romnja hinken in den meisten zentralen Bereichen des Lebens deutlich hinterher, sei es im Arbeitsleben, sei es, was das Niveau ihrer Ausbildung betrifft oder in gesundheitlichen Belangen. Das gilt nicht nur im Vergleich mit Nicht-Roma-Frauen, sondern auch im Vergleich mit Roma-Männern[2].

Nicht genug, dass sie sich mit existierenden patriarchalen Strukturen innerhalb wie außerhalb der Roma-Communities auseinanderzusetzen haben, sie sehen sich darüber hinaus mit den verschiedensten Formen und Spielarten eines tiefsitzenden Antiziganismus konfrontiert. Im Falle der Romnja überlagern und verstärken sich verschiedene Kategorien – Geschlecht, Rasse/Ethnizität, Nationalität (wie etwa im Fall migrantischer rumänischer Romnja), Klasse, Alter und sexuelle Orientierung – dergestalt, dass es sich bei ihnen um eine besonders verletzliche soziale Gruppe handelt.

Aber wir wollen hier keine Opfergeschichte erzählen. Für einige Frauen ist diese Geschichte vielmehr eine der Ermächtigung und der Widerstandsfähigkeit. Denn trotz all der genannten Schwierigkeiten mangelt es den Romnja nicht an Handlungsmacht und dem Potenzial zur Veränderung – und das nicht nur im Hinblick auf ihr eigenes Leben und ihren eigenen Communities, sondern auch in einem weiter gefassten Kontext und auf breiter Front.

Im Bewusstsein um ihren speziellen Status, ihre besonderen Bedürfnisse und Interessen aber auch die Hürden, mit denen sie sich an der Schnittstelle von Patriarchat und Rassismus konfrontiert sehen, haben sich Romnja Schritt für Schritt auf die Suche nach ihrer eigenen Stimme begeben. Auch wenn einzelne Frauen sich immer wieder in politischen und sozialen Kämpfen in verschiedenen europäischen Ländern engagiert haben (zum Beispiel Katarina Taikon in Schweden, Ágnes Daróczi in Ungarn, Leticia Mark in Rumänien oder Nadezhda Demeter in Russland), bildete sich eine eigenständige Roma-Frauenbewegung erst in den frühen 1990er-Jahren heraus. Damals tauchten die ersten Roma-Frauen-Organisationen auf: erst in Spanien und später überall in Zentral- und Osteuropa.

Die „Gitanas-Bewegung“ – der Roma-Frauen-Aktivismus in Spanien – begann 1990 und entwickelte sich im Verlauf des Jahrzehnts dynamisch weiter. Sie etablierte sich als eigenständige Bewegung mit einer starken Identität und setzte sich dabei sowohl von den männerdominierten Roma-Bewegungen ab als auch von der spanischen Mainstream-Frauenbewegung. Im Gitanas-Aktivismus wurden überschneidende Anliegen formuliert, von der Position der Frau aus ebenso wie von der einer ethnischen Minderheit. Es ging darum, sich gleichermaßen mit dem tief in der spanischen Mehrheitsgesellschaft verankerten „Machismo“ und dem Patriarchat auseinanderzusetzen und mit Rassismus, konkreter, mit dem historisch verankerten Antiziganismus, dem sich die Gitano-Community seit Jahrhunderten ausgesetzt sah.

Die Roma-Frauenbewegung bildete sich auf der Suche nach einer Stimme, mit der die kollektiven Bedürfnisse und Anliegen der Romnja artikuliert werden könnten, als Antwort auf das gefühlte Fehlen einer entsprechenden Repräsentation. Zum einen zeigte sich die allgemeine Roma-Bewegung spezifischen Frauenthemen gegenüber im Großen und Ganzen nicht gerade aufgeschlossen. Die Roma-Bewegung war in großen Teilen von Männern dominiert (und ist es, um ehrlich zu sein, immer noch). Sie konnte daher auch nicht den notwendigen Raum für Dialog, Kollaboration und die Beteiligung von Romnja bieten. Zum anderen verhielt sich die Frauenbewegung den Anliegen der Roma-Frauen gegenüber ebenfalls nicht inklusiv oder war imstande, diese adäquat zu repräsentieren. Die spezifische Perspektive der Romanias wurde von den feministischen Anliegen der verschiedenen Mainstream-Frauenbewegungen nicht abgedeckt.

Die Roma-Frauenbewegung wurde anfangs von anderen Minderheiten- oder subalternen Frauenbewegungen inspiriert. Die sogenannten Roma-Feminismen in Europa haben unterschiedliche intellektuelle, politische und kulturelle Wurzeln und verschiedene Inspirationsquellen, die alle dazu beitrugen, dass sich die Diskussion am Kreuzungspunkt von Rassismus, Sexismus und Klassenpolitik entzündete. Diese Quellen, zu ihnen zählt unter anderem das Konzept der Intersektionalität, stießen Überlegungen an, die zu einer Kritik an der fehlenden Solidarität mit den Anderen und ihrer mangelnden Repräsentation führten – etwa im Falle des Verhältnisses von Romnja und weißen Feminist_innen.

In diesem Kontext war es besonders die Arbeit schwarzer Feminist_innen aus den USA, die bei den europäischen weiblichen Roma-Intellektuellen auf besonderes Interesse stieß. Eine Reihe schwarzer feministischer Akademiker_innen verlieh in ihrer Arbeit der komplexen Lebensrealität schwarzer Frauen an der Schnittstelle von Rasse, Klasse und Geschlecht Ausdruck und hinterfragte dabei das Konzept „weltweiter Schwesternschaft“. Denn dieses Konzept bot keinerlei Raum, um Klassen- und Rassenungleichheit zu adressieren, ebensowenig wie die monofokale Identitätspolitik der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Für viele Roma-Frauenrechtler_innen bildeten diese Schriften einen wichtigen Bezugspunkt. Im Laufe der Zeit wurden diese Ideen auf den Kontext des Roma-Politaktivismus angewandt, um das monolithische Konzept der „Roma-Frau“ zu hinterfragen und stattdessen vielfältigere und diversifizierte Narrative und Spielarten politisch verfasster Roma-Identität zu installieren. Demgegenüber behauptet die universelle oder „weltweite“ Schwesternschaft, wie sie sich als eine dominante feministische Idee seit den 1970er-Jahren gehalten hat, eine gemeinsame essentialistische weibliche Identität und eine allgemeine Geschlechterunterdrückung durch das Patriarchat. Es waren vor allem schwarze und farbige Frauen und Feminist_innen aus der „Dritten Welt“, die diese vereinheitlichende und globale Vorstellung von Feminismus kritisierten. Sie argumentierten, dass eine derartige Perspektive die weißen, „westlichen Frauen“ der Mittelklasse privilegiere und anderen Frauen dagegen keine Aufmerksamkeit zuteilwerden lässt. Diese Argumente – vorgebracht hauptsächlich von schwarzen, postkolonialen oder aus der „Dritten Welt“ stammenden Feminist_innen – bestimmen die Form, die Konzepte und die Sprache des europäischen Roma-Feminismus maßgeblich.

Nichtsdestotrotz ist die sukzessive Herausbildung einer Roma-Frauenbewegung in Europa – als eigenständiger Strang des politischen Aktivismus der Roma – nicht ausschließlich auf eine Elite aus Romnja mit höherer Bildung beschränkt. Man könnte durchaus behaupten, dass ein allgemeines Bewusstsein existiert, auf das sich der Aktivismus der Romnja berufen konnte: eine bereits vorhandene kollektive Identität als Frau und als Roma, ein Bewusstsein um diese unvorteilhafte Situation und die mehrfache Herausforderung, mit der man sich als Frau und Mitglied einer stigmatisierten Minderheit konfrontiert sieht. Der Diskurs des Roma-Frauen-Aktivismus stieß bei den Romnja auf große Resonanz – ungeachtet ihrer jeweiligen Klasse und sozioökonomischen Situation, dem Alter oder der Schulbildung. Der Grundgedanke dieses Kampfes – am Schnittpunkt von Geschlechtergleichheit und Antirassismus – führte zur Herausbildung eines klar akzentuierten gemeinsamen Rahmens. Die Roma-Frauen-Organisationen und ihre führenden Köpfe nahmen das Konzept des Feminismus als Grundzug ihrer eigenen Emanzipation und Selbstentfaltung an, gingen dabei aber kritisch vor und passten den Ansatz eines „weißen Feminismus“ an die Werte und Traditionen der Roma-Communities an. Auf diese Art und Weise gelang es, einen „Roma-Feminismus“ zu etablieren.

Nichtsdestotrotz verlief die Etablierung und Evolution der Roma-Frauenbewegung (sowohl national wie international) nicht ohne Spannungen und Probleme. Auch wenn viele Roma-Männer sich unterstützend und ermutigend verhielten, kam es seit dem Auftauchen des Roma-Frauen-Aktivismus wiederholt zu Kritik an einer vermeintlichen Fragmentierung bestimmter Roma-Organisationen entlang der Geschlechtergrenzen, besonders angesichts solcher Initiativen, an denen keine Männer teilnehmen durften. Diese Art der Kritik war zur Zeit der Herausbildung der Roma-Frauenbewegung auch auf europäischer Ebene verbreitet[3]. Um genau zu sein, „besteht trotz der gewaltigen Möglichkeiten, von der Position der Romnja aus allgemeinere patriarchale Gesellschaftsstrukturen infrage zu stellen, in der Roma-Bewegung im Hinblick auf die Frauen- und Geschlechterpositionen weiterhin eine Trennung zwischen einem Fokus auf ‚Ethnizität’ und einem Fokus auf der Schnittstelle von ‚Ethnizität’ und ‚Gender’.“[4]. Zudem sind die verschiedenen Formen und Diskurse der Roma-Frauen-Aktivist_innen alles andere homogen. Widerstreitende oder gegensätzliche Narrative finden sich aber nicht nur bei den verschiedenen Ausprägungen des „Roma-Feminismus“, sondern – und das ist entscheidender – auch zwischen den Geschlechtern.

(c) Akos Stiller for Open Society Foundations
Teilnehmerinnen am Workshop „Intersections of Gender, Ethnicity, and Class: Reflexive History and Future of the Romani Movement“, organisiert vom Center for Policy Studies an der Central European University und der Friedrich-Ebert-Stiftung. Der Workshop fand am 30. und 31. Oktober 2015 in Budapest statt.
(c) Akos Stiller für Open Society Foundations

Nichtsdestotrotz ist es eine unbestreitbare Tatsache, dass den Stimmen der Romnja, die jenen Anliegen und Problemen Ausdruck verleihen, die sich aus der Überschneidung von Geschlecht, ethnischen Rollen und Klassenpositionen ergeben, vermehrt Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit zuteilwird. Im Bereich des politischen Aktivismus findet diese Entwicklung ihren Ausdruck in der stark wachsenden Anzahl von Roma-Frauen-Organisationen und weiblichen Führungskräften quer durch Europa. Romnja haben bedeutende Rollen und Positionen eingenommen: So finden sich unter den Mitgliedern des Europaparlaments beispielsweise mehr Roma-Frauen als -Männer (Lívia Járóka, Viktória Mhácsi und Soraya Post). Die Sichtbarkeit der Romnja beschränkt sich jedoch nicht ausschließlich auf die Sphäre politischer Betätigung. Auch in der akademischen Welt konnte man während der letzten Jahre angesichts des Aufstiegs von Roma-Akademikerinnen – zum Beispiel Dr. Ethel Brooks, Dr. Magda Matache, Dr. Petra Gelbart oder Dr. Ana Giménez Adelantado – eine ebenso dynamische Entwicklung beobachten. Und auch in den verschiedenen Bereichen von Kunst und Kultur haben sich Roma-Frauen mit starken und außergewöhnlichen Stimmen etabliert. Viele von ihnen nehmen sich explizit nicht nur den Problemen an, die sich aufgrund ihres ethnischen Hintergrunds ergeben, sondern auch solchen, die sich auf ihren Status als Roma-Frauen zurückführen lassen (zum Beispiel Selma Selman, Mihaela Drăgan, Delain Le Bas, Tímea Junghaus oder Erika Lakatos). Viele dieser Frauen nehmen nicht nur innerhalb der Roma-Communities eine Vorreiterrolle ein, sondern auch im Allgemeinen als zeitgenössische Denkerinnen und Produzentinnen.

Die Sensibilitäten, die von den überlappenden ethnifizierten Lebenserfahrungen der Romnja herrühren, können dazu beitragen, Probleme zu beleuchten und zum Ausdruck zu bringen, die sich weit über die Grenzen der spezifischen Anliegen der Roma-Rechte hinausbewegen. So helfen sie zum einen dabei, die Dynamik der Misogynität, des Patriarchats und paternalistischer Strukturen aufzudecken – und zum anderen, die der Intoleranz, Xenophobie und des Rassismus gegenüber unseren Communities.

Übersetzung aus dem Englischen: Dominikus Müller

 

1. Zitiert nach Grada Kilomba (2010). „Plantation Memories: Episodes of Everyday Racism“, Münster: UNRAST-Verlag. S. 12. 

2. Siehe z. B.: E. Cukrowska, A. Kóczé, „Interplay between gender and ethnicity: exposing structural disparities of Romani women“. Analyse der „UNDP/World Bank/EC regional Roma survey data. Roma Inclusion Working Papers“, Bratislava: UNDP, 2013.

3. Siehe zum Beispiel die Diskussionen in: „Roma Rights„, 4/2006: „Romani Women’s Rights Movement“.

4. J. Jovanovic, A. Kóczé, E. Vincze & V. Zentai, „Introduction“, in:  „A Reflexive History of the Romani Women’s Movement: Struggles and Debates in Central and Eastern Europe“, hrsg. von J. Jovanovic, A. Kóczé, E. Vincze und  V. Zentai (im Erscheinen).

Dieser Text beruht auf dem von Angéla Kóczé und Anna Mirga-Kruszelnicka verfassten Kapitel „Emancipation and Passionate Politics: Impact of Various Feminisms on Eastern European Romani Women’s Activism“, in: „A Reflexive History of the Romani Women’s Movement: Struggles and Debates in Central and Eastern Europe“, hrsg. von J.  Jovanovic, A. Kóczé, E. Vincze und V. Zentai (im Erscheinen).

 

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