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Internationaler Tag des Romanes

Prof. Dr. Hristo Kyuchukov
Schlesische Universität in Katowice, Polen

 

Romanes gehört zur Familie der neuindischen Sprachen. Es ist eng mit Hindi verwandt und wurzelt im Prakrit. Doch Romanes teilt sich ebenso bestimmte Eigenschaften mit einigen europäischen Sprachen, von denen es beeinflusst wurde (Griechisch, Rumänisch, Türkisch, einige slawische Sprachen). In diesem Sinn ist Romanes einzigartig. Es ist die einzige indische Sprache, die außerhalb Indiens gesprochen wird, und als indogermanische Sprache zugleich mit anderen europäischen Sprachen verwandt.

Romanes entwickelte sich vor etwa 1000 Jahren außerhalb Indiens. Auf dem Weg von Indien nach Europa kamen Sinti und Roma mit unterschiedlichen Sprachen in Kontakt, die ihre Spuren im Wortschatz und der Grammatik des Romanes hinterließen. Dennoch blieb Indisch (in Bezug auf Wortschatz und Grammatik) die Grundlage von Romanes. Diese indischen Wurzeln wurden vor etwa 350 Jahren entdeckt. Damals stellten verschiedene deutsche, niederländische und britische Autor_innen zum ersten Mal große Ähnlichkeiten mit Sanskrit fest. Heutzutage herrschen über die indischen Wurzeln des Romanes keine Zweifel.

Während der letzten 200 bis 250 Jahre stieg das Interesse an Romanes kontinuierlich. Eine Reihe europäischer Wissenschaftler_innen untersuchte die Grammatik und trug den Wortschatz zusammen. Im Zuge dessen erschienen in Europa verschiedene Sprachlehren und Wörterbücher. Auch unter Roma und Sinti selbst wuchs das Interesse an ihrer Sprache. Und auch sie begannen, Romanes genauer unter die Lupe zu nehmen. Ihren Publikationen ist es zu verdanken, dass wir heute ein spezifisches Wissen um Dialekte haben, die vor 100 bis 150 Jahren gesprochen wurden. Unter der Österreichisch-Ungarischen Monarchie war es Sinti und Roma möglich, ihre Sprache in der Schule zu lernen. Kaiser Franz Joseph I. erlaubte die Gründung eigener Schulen, in denen Romanes unterrichtet wurde. 1850 gründete Ferdinand Farkas, ein ungarischer Rom, eine Roma-Schule, in der ein weiterer Rom, nämlich Jancsi Balogi, auf Romanes katholische Theologie unterrichtete. Er übersetzt und publizierte Gebete auf Romanes (1860–1870). Erzherzog Joseph Karl Ludwig von Österreich publizierte 1867 mit der Hilfe von Roma ein Lehrbuch auf Romanes und, 1888, eine Sprachlehre und ein Wörterbuch für das Lovara-Romanes, wie es in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie gesprochen wurde.

Nach der Oktoberrevolution erlaubte die sowjetische Regierung den Roma 1917, ihre eigenen Lehrbücher für den Romanes-Unterricht herauszugeben, ebenso Sprachlehren und Wörterbücher. Sie durften Schulen eröffnen, in denen Romanes gelehrt werden konnte. 1931 wurde mit „Romen“ das erste Roma-Theater gegründet, in dem Stücke auf Romanes und auf Russisch gespielt wurden. In den 1920er- und 1930er-Jahren wurden zudem in einigen Publikationen die Kalderasch-Dialekte und nordrussische Dialekte dokumentiert, die zu dieser Zeit auf dem Gebiet Russlands gesprochen wurden.

Zur Zeit des Kommunismus waren die Erforschung von und das Publizieren über Romanes in den meisten osteuropäischen Ländern verboten. Im ehemaligen Jugoslawien war es Roma jedoch erlaubt, Romanes in Medien und Schule zu verwenden. In Westeuropa war Schweden die Speerspitze in der Beschäftigung mit Romanes unter Beteiligung von Roma. Dort wurde 1963 beispielsweise eine der besten Sprachlehren zum Kalderasch-Dialekt veröffentlicht.

Nach den demokratischen Umbrüchen in Europa stieg das Interesse an Romanes und seiner Standardisierung. Auf dem IV. Kongress der IRU (International Romani Union) präsentierte Marcel Courthiade ein standardisiertes Romanes-Alphabet. Dieses Alphabet wurde jedoch nie von den Sinti-und Roma-Communities übernommen, da es Meinungsverschiedenheiten darüber gab, wie einige der Buchstaben in konkreten Fällen gelesen werden sollten. Nur in Frankreich, in Rumänien und im Kosovo ist das Alphabet von Courthiade in Gebrauch. In Ländern wie Bulgaren, Serbien, Tschechien und in der Slowakei entwickelten Roma ihre eigenen Standards. In Schweden wird ebenfalls an der Standardisierung von Romanes gearbeitet. Dort erscheinen viele Schulbücher, Kinderbücher, Sprachlehren und Wörterbücher zu den verschiedenen Dialekten.

Laut der Manchester Working Group of Language Contact handelt es sich bei „Standardsprache um diejenige Spielart einer Sprache, von der angenommen wird, dass sie korrekter oder passender ist. Die meisten Standardsprachen begannen jedoch als einfache Dialekte, so wie alle anderen Sprachvariationen auch: begrenzt auf eine bestimmte Region und eine bestimmte Bevölkerungsgruppe. Bei der Wahl einer bestimmten Varietät zur Standardsprache handelt es sich um einen gesellschaftlichen und politischen Prozess. Während dieses Prozesses werden bestimmte linguistische Eigenschaften anerkannt, andere verworfen. Eine Standardsprache kann auf der Sprache einer Hauptstadt beruhen oder eines Landes, aber auch auf der Sprache einer bestimmten Region. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Standardisierung ist das, was wir ‚Kodifizierung‘ nennen – das Entwerfen eines Schreibsystems und entsprechender Schreibkonventionen für eine Sprache, die bislang nicht geschrieben wurde. Momentan werden einige Sprachen kodifiziert. Diese Bemühungen werden dabei von einer multilingualen Ausgangslage erschwert.“

Warum sollte Romanes standardisiert werden? Aus den folgenden Gründen:

• Standardisierte Sprache ermöglicht ihren Sprecher_innen einen anderen Stand, da Institutionen und Medien standardisierte Formen verwenden.
• Standardisierte Formen können an Schulen unterrichtet werden.
• Standardisierung bewahrt eine Sprache vor dem Verschwinden.

Romanes ist im Weltatlas der bedrohten Sprachen der UNESCO geführt. Von den weltweit 12 bis 14 Millionen Roma und Sinti sprechen heute nur etwa vier Millionen Romanes. Im Lauf der Jahre gab es diverse Versuche, Romanes zu standardisieren. In den letzten 50 bis 60 Jahren waren es vor allem Linguist_innen, die den Prozess der Standardisierung vorangetrieben haben. Erst in den letzten 20 Jahren schalteten sich vermehrt Sinti-und-Roma-Aktivist_innen ein, meist Sprecher_innen bestimmter Dialekte, in die Diskussion ein. Zentral für die Diskussionen unter den Aktivist_innen ist die Frage, welcher Dialekt nun besser sei oder korrekter – ohne jedoch zu verstehen, dass es keine „guten“ oder „schlechten“ Dialekte gibt. In vielen Ländern wird die Standardisierung des Romanes sehr oft den Sinti-und-Roma-Aktivist_innen überlassen, die jedoch über keinerlei linguistisches Hintergrundwissen verfügen. Darin ist einer der Hauptgründe zu sehen, warum der Prozess der Standardisierung von Romanes ins Stocken geraten ist.

Als gesprochene Sprache ist Romanes jedoch zumindest teilweise standardisiert. Die internationalen Treffen und Konferenzen in Straßburg und Brüssel, auf denen Sinti und Roma aus verschiedenen Ländern und mit verschiedenen Dialekten zusammenkommen, liefern eine Plattform, auf der sich Sinti und Roma auf ein gemeinsames Romanes einigen mussten, um überhaupt miteinander sprechen zu können.

Es gibt in Europa heutzutage zwei Tendenzen: Die eine versucht, regionale Standards für Romanes festzulegen, beispielsweise ein standardisiertes Romanes für die Balkanstaaten, ein anderes für Zentraleuropa und so weiter. Die andere versucht, ein standardisiertes Romanes für jedes einzelne Land zu entwickeln, beispielsweise für Rumänien, für Serbien oder für die Slowakei. In diesen Ländern wurde der Prozess der Standardisierung von Linguistik-Professor_innen angeleitet und fand unter Beteiligung von Roma-Aktivist_innen statt – ein Grund, warum diese Standardisierungsbemühungen von Erfolg gekrönt waren.

In Schweden gestaltet sich die Situation etwas anders. Hier spielen Mitglieder der Roma-Communities eine zentrale Rolle bei der Festlegung der Romanes-Dialekte, häufig, ohne Linguist_innen mit Erfahrungen in Dialektologie oder der Standardisierung des Romanes, hinzuzuziehen. Deutlich wurde das jüngst etwa auf einem Seminar in Malmö im Oktober 2017, wo mehrheitlich junge Roma ihre Amateurhaftigkeit beim Beschreiben der Dialekte zur Schau gestellt hatten. Hier war auch das Anliegen zu vernehmen, eine standardisierte „Arlia-Sprache“ zu schaffen, etwas, das den Hauptanliegen der Standardisierung widerspricht und die Gefahr in sich birgt, dass nun auch Rufe nach einem „Standard-Kalderasch“, einem „Standard-Lovara“ etc. laut werden – und das wäre in der Tat eine Sackgasse für Romanes. Denn Romanes setzt sich aus all diesen Dialekten zusammen. Bestimmte Aktivist_innen aber, so scheint es zumindest, verstehen dies nicht. D. Kenrick, I. Hancock, M. Hubschmannova, V. Friedman und H. Kyuchukov folgen dagegen den Richtlinien jener klassischen Linguisten, welche die „Standard-Sprachtheorie“[1] ins Leben gerufen haben. Laut dieser Theorie zeichnen sich Standardsprachen durch folgende Punkte aus: flexible Stabilität, Intellektualisierung und Kulturgut.

Flexible Stabilität ist für eine Standardsprache erstrebenswert, d. h. sie ist zum einen stabil genug ist, um bei der normativen Kodifikation nicht zu vielen Veränderungen unterworfen zu sein, und zum anderen flexibel genug, als dass ihr Kode elastisch genug ist, um Innovation angesichts der sich stets verändernden Anforderungen der Gesellschaft zuzulassen. Dieses Merkmal entspricht also dem, was wir normalerweise als Kodifizierung kennen. Zu viel Spielraum bei der Kodifizierung (beispielsweise zu viele zugelassene orthografische Varianten) kann der Sache abträglich sein.

Das Konzept der Intellektualisierung wiederum bezieht sich auf die Probleme, die sich beim Versuch einstellen, einer Sprache zu ermöglichen, möglichst präzise und rigoros zu sein und, wenn nötig, abstrakte Aussagen treffen zu können.

Kulturgut bezieht sich schließlich auf die Verwurzelung einer Sprache. Verwurzelung und Geschichtlichkeit sind insofern wichtig, da die Entwicklung einer Standardsprache nur dann Legitimität beanspruchen kann, wenn diese in die kulturelle Tradition der jeweiligen Sprechergemeinschaft eingebettet ist.

Die Diskussionen und Debatten über die Standardisierung/Kodifizierung von Romanes sind europaweit nach wie vor in vollem Gange. Die verschiedenen Aktivist_innen und Expert_innen haben unterschiedliche Ideen darüber, wie Romanes für zukünftige Generationen bewahrt werden soll, welches Alphabet verwendet werden soll, in welchem Dialekt die Kinder in den Schulen unterrichten werden sollen etc. Dennoch hat die Republik Kroatien bereits 2015 auf der 38. Vollversammlung der UNESCO vorgeschlagen, den 5. November zum Internationalen Tag des Romanes zu machen. Dass die UNESCO, die weltweit führende Organisation für interkulturellen Dialog, diesen Vorschlag annahm und den Internationalen Tag des Romanes ins Leben rief, hat die Entwicklung und Erforschung des Romanes weitergebracht.

Der Internationale Tag des Romanes ist für die Zukunft der Sinti und Roma wichtig. Und zwar, weil Sprache Sinti und Roma die Möglichkeit gibt, kulturellen Reichtum und Identität auszudrücken. Zusätzlich bietet die weltweite Feier am Internationalen Tag des Romanes jedes Jahr die Gelegenheit, die Schönheit der verschiedenen Spielarten dieser Sprache sichtbar zu machen, Seminare zu organisieren, Workshops abzuhalten und Konferenzen, die dem Romanes gewidmet sind. Sinti und Roma hilft das zweifelsohne dabei, ihre Sprache für die nächsten Jahrhunderte am Leben zu erhalten.

1. Ziegler, Douglas-Val (1981). Romani in the light of Standard Language Theory. Unpublished manuscript.

Übersetzung: Dominikus Müller

 

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