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„Wir müssen unsere Geschichte erzählen!“

Zoni Weisz spricht über Lächeln als Motivation, Trauma durch Vernichtung und Hoffnung an Orten, an denen man sie nicht erwartet.

 

Ein Interview mit dem niederländischen Sinto und Holocaust-Überlebenden Zoni Weisz erzeugt immer Gänsehaut. Zu bewegend ist seine Geschichte, die ihn zu einem der wichtigsten Botschafter der Sinti und Roma werden ließ, zu eindrücklich seine Worte, mit denen er das geschehene Unrecht schildert und die gegenwärtige Menschenrechtssituation in Europa anmahnt. Wir treffen Zoni Weisz in Budapest am Rande des Beiratstreffens von RomArchive, dem er angehört.

RomArchive: Herr Weisz, für Sie scheint es selbstverständlich, so viel Arbeit in die Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma zu stecken, obgleich Sie nichts dafür kriegen außer einem gelegentlichen Schulterklopfen oder einem freundlichen Lächeln. Woher nehmen Sie Ihre Motivation?

Zoni Weisz: Tatsächlich ist das Lächeln Teil meiner Motivation! Es stimmt zwar, dass in meinem Alter die Arbeit zunehmend mühsamer wird, aber sehen Sie: Ich bin Sinto und die Situation unseres Volkes, der Roma und Sinti, ist schlecht. Ich habe meine ganze Familie im NS verloren. Das ist etwas, das nicht mehr passieren darf. Niemals mehr soll ein Volk völlig ausgegrenzt und ermordet werden. Die Gesellschaft hat aber so gut wie nichts daraus gelernt! Ich will, dass unsere jungen Leute eine Zukunft haben. Nicht mehr unter Ausgrenzung leiden, sondern gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Arbeit haben! In Osteuropa ist es noch schlimmer. An vielen Orten dort gibt es keine Zukunft, weil Roma oftmals völlig ausgegrenzt sind. Das Stigma ist so groß, dass sie keine Chance haben. Viele kommen dann in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Westeuropa, nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Kinder.

RomArchive: Ein Schlüsselmoment Ihres Engagements war am 27. Januar 2011 die Rede zur Gedenkstunde an die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag als erster Vertreter Ihrer Minderheit überhaupt.

Zoni Weisz: Das war überhaupt das erste Mal, dass ein Angehöriger unserer Minderheit eine Rede im Bundestag gehalten hat! Nach dieser Verfolgungsgeschichte ist das unvorstellbar! Aber eine große Chance. Ich hatte genau 50 Minuten. Und ich hatte viel zu erzählen, sehr viel. Nicht nur darüber, was in der Nazizeit passiert war. Das ist immer da, im Hintergrund. Natürlich habe ich über den Holocaust geredet, über den Völkermord an unseren Menschen, an den Juden und an den vielen anderen Opfern. Aber ich habe auch meine persönliche Geschichte erzählt und damals schon die Situation der Roma in Osteuropa erwähnt.

RomArchive: Die Lage hat sich eher verschlimmert.

Zoni Weisz: Ja. Und das habe ich auch im Europarat immer wieder betont und ich werde es auch vor den UN sagen! Das sind zwei Sachen: Das eine nenne ich den vergessenen Holocaust und das andere die Menschenrechtssituation in Europa. Wenn man dann zurückschaut und sieht, dass sich fast nichts geändert hat … furchtbar!

RomArchive: Sie sagen Menschenrechtssituation. In den Medien werden die Sinti und Roma oft als nicht zu Europa und ihren jeweiligen europäischen Heimatländern zugehörig dargestellt, als eine Art Dauermigranten…

Zoni Weisz: …die keine Rechte haben! Aber wir leben seit Jahrhunderten in Europa, in den Niederlanden, in Deutschland, in Ungarn. Außerdem sind die Menschenrechte universell! Das ist so wichtig, das sollten wir niemals vergessen. Wir müssen gemeinsam gegen Ausgrenzung und Diskriminierung kämpfen. Das geht uns alle an! Vor allem die Mehrheitsgesellschaften! Es wird viel zu oft vergessen, dass es nicht Aufgabe der Diskriminierten sein sollte gegen Diskriminierung anzugehen, sondern derjenigen, von deren Seite diskriminiert wird!

RomArchive: In Deutschland musste es erst die sehr erfolgreiche Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma unter Romani Rose geben, damit das Unrecht nach Jahrzehnten anerkannt wurde. Sie sind sehr viel unterwegs, kommen selbst aus Holland – wie ist es in anderen europäischen Ländern?

Zoni Weisz: Die Situation ist überall schlecht. Und in den meisten Ländern gibt es sehr viel weniger Selbstorganisationen als in Deutschland. In den Niederlanden hat uns die Regierung vor Kurzem den Geldhahn abgedreht. Es gibt jetzt keine richtige Organisation der Sinti und Roma mehr, nur noch ein paar kleine Organisationen.

RomArchive: Der Aufschrei muss riesig gewesen sein!

Zoni Weisz: Nein. Unser Parlament hat ein Gesetz angenommen, das für Minderheiten keine Ausnahmen mehr vorsieht. Das ist sehr schlimm. Die nicht vorhandene Reaktion steht symptomatisch für den Umgang mit unserer Minderheit. Wir müssen überall in Europa etwas dagegen tun. Es braucht mehr Menschen, die offen zu ihrer Identität stehen und erklären, was los ist, was wir wollen, dass wir Teil der Gesellschaften unserer Heimatländer sind und auch sein wollen. Das Stigma ist sehr stark.

RomArchive: Woher kommt dieses Stigma?

Zoni Weisz: Es ist jahrhundertealt und komplex. Aber im Grunde steckt in jedem von uns ein Stück Xenophobie – Angst vor dem Fremden. Und das ist auch der Schlüssel zu diesem Problem. Ich bin überzeugt, es dauert noch Generationen bis wir gleich sind. Aber inzwischen müssen wir daran arbeiten und unsere Leute mobilisieren, rauszugehen und zu erzählen, dass wir Menschen sind wie alle anderen. Wir müssen unsere Geschichte erzählen. Das sehe ich als einen sehr großen Beitrag zu einer besseren Zukunft. Etwa durch die Kunst! Durch die Kunst können wir eine sehr machtvolle Geschichte erzählen und die eigene Identität als etwas positives erleben. In Holland haben wir eine riesige Musikindustrie, speziell der Sinti. Die reisen durch die ganze Welt. Das ist einerseits sehr gut für unser Image und andererseits wirkt sich der Einfluss der weiten Welt natürlich auch wieder auf den kleinen Kreis aus, in dem man so lange gelebt hat. Es findet eine Öffnung statt.

RomArchive: Die Musik als universelle Sprache?

Zoni Weisz: Ja, aber nicht nur die Musik! Malerei, Tanz, Film, all die anderen Künste. Die Menschen wissen ja nichts von unserer Kultur. Nun teilen wir zum ersten Mal in unserer Geschichte einen Teil unserer Kultur mit der Außenwelt und jeder kann mit einem Klick auf dem Computer sehen, wer wir sind, was unsere Geschichte ist, was unsere Kunst ausdrückt.

RomArchive: Sie sprechen RomArchive an, in dessen Beirat Sie sitzen. Ein digitales Archiv für Kunst der Sinti und Roma, das eben diese Geschichten sichtbar machen soll.

Zoni Weisz: RomArchive setzt genau da an! Romani Rose hat gesagt: „Um die Situation unserer Minderheit zu ändern, müssen wir den Stereotypen mit einer selbst erzählten Gegengeschichte begegnen!“ So kommen wir einander näher. Das ist genau der Punkt, an dem wir ansetzen müssen, um diese Xenophobie zu überwinden. Die Gadsche schauen dann mit anderen Augen auf uns. Wir sind dann nicht nur schmutzige Zigeuner, sondern Menschen wie sie. Deshalb ist RomArchive so wichtig! Es weiß ja niemand, dass es auch Roma-Literatur gibt. Das soll alles gezeigt werden.

RomArchive: Vieles ist ja nur mit dem Wissen Ihrer Generation zu verstehen. Mit dem Wissen um den Holocaust, die Bürgerrechtsbewegung, dem Kontext, in dem die Kunst entsteht. Glauben Sie, RomArchive kann auch dazu beitragen, das Wissen der Zeitzeugen zu erhalten?

Zoni Weisz: Unbedingt! Das haben wir lange im Beirat diskutiert. Soll es nur Kunst sein oder auch Geschichte? Selbstverständlich, was ist Kunst ohne ihren Kontext? Dann ist sie nichts. Wir machen RomArchive nicht nur für Roma und Sinti. Das ist nur ein kleiner Teil. RomArchive wird für die ganze Welt zugänglich sein. Das passiert jetzt zum ersten Mal und wir müssen gut darüber nachdenken. Aber, so weit sinnvoll, müssen wir unsere Kultur auch teilen. Ich glaube, das ist wichtig.

RomArchive: RomArchive richtet sich sowohl an die Mehrheitsgesellschaften als auch an die Roma und Sinti. Was für eine Wirkung wird RomArchive auf die Roma und Sinti haben?

Zoni Weisz: Viele Roma und Sinti, speziell die jungen Leute, haben keine Ahnung von ihrer eigenen Geschichte. Dass es Roma in der ganzen Welt gibt. Nur die Juden und unser Volk sind über die ganze Welt verteilt. Aber wenn ein Rom oder ein Sinto aus Brasilien nach Budapest kommt, dann verbindet uns etwas, oder nicht? RomArchive muss ein positives Erleben der eigenen Identität ermöglichen. Nur dann kann es eine selbstbewusste Integration geben. Sonst bleibt Ausgrenzung oder Assimilation. Leider gibt es viele gut ausgebildete Sinti und Roma, die dann später nicht mehr wissen wollen, dass sie Rom oder Sinto oder Romni oder Sintiza sind. Ich sehe das an meinem eigenen Sohn. Der sagt: „Tata, du weißt, es ist nicht immer von Vorteil, Sinto zu sein.“ Er sagt auch nicht immer, dass er Sinto ist. In seinem Kopf, in seinem Herzen steckt der Verlust seiner Großeltern und seiner Tante. Der Zweite Weltkrieg spielt eine Rolle, im Hintergrund ist er immer da. Das dauert noch Generationen bis das vorbei ist.

RomArchive: Am 2. August 2014 sind tausend Roma-Jugendliche nach Auschwitz gekommen, um ihrer Verstorbenen zu gedenken. Stimmt Sie das hoffnungsvoll, dass junge Roma nach Auschwitz fahren, um ihre eigene Geschichte besser zu verstehen, aber auch um neue Wege zu finden, dieses Wissen zu verbreiten?

Zoni Weisz: Ja, selbstverständlich. Letztes Jahr war ich nicht in Ausschwitz, leider, aber zwei Jahre zuvor habe ich eine große Gruppe junger Menschen herumgeführt und erklärt, was passiert ist. In Birkenau gibt es einen kleinen Teich. Als alle um diesen kleinen Teich herumstanden – er liegt in der Nähe des Krematoriums Nr. 5, wo die „Zigeuner“ umgebracht wurden – hatten wir alle das Gefühl wir gehören zusammen. Was hier passiert ist, ist unsere Geschichte. Wir waren ganz still. Man konnte das Rauschen der Birken hören. Das Wasser, wo alles geschah. Das war schön, auf eine sehr melancholische, eine sehr hoffnungsvolle Art. Kann man sich vorstellen, dass in einer so friedlichen Umgebung etwas so Grauenvolles passiert ist, oder umgekehrt, dass an einem solch schrecklichen Ort eine solche Erfahrung möglich ist? Für mich war das unglaublich! Aber viel wichtiger: auch für die Jugendlichen. In diesem Augenblick wussten wir, dass wir zusammen gehören. Unsere gemeinsame Geschichte wurde uns bewusst. Solche Erlebnisse beeinflussen die Identität – und damit die Zukunft.

RomArchive: Herr Weisz, Wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Die Fragen stellten Gilda Horvath und Armin Ulm.

 

mehr über Zoni Weisz:

Zoni Weisz musste als siebenjähriger Junge mit ansehen, wie seine Familie nach Auschwitz verschleppt wurde. Nur durch einen Zufall überlebte er den NS-Terror und baute sich danach eine erfolgreiche Karriere als Florist auf. Unter anderem entwarf er Blumendekorationen für die Krönungsfeier der niederländischen Königin Beatrix und die Hochzeit des Kronprinzen Willem-Alexander sowie für die Festveranstaltung „50 Jahre Deutscher Bundestag“. Im Bundestag sprach er als erster Vertreter seiner Minderheit überhaupt zur Gedenkstunde an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2011. Bei der Eröffnung des Denkmals für die im NS ermordeten Sinti und Roma Europas am 24. Oktober 2012 in Berlin sprach er als Repräsentant der Überlebenden, am 27. Januar 2016 sprach er vor den Vereinten Nationen.

 

2016 erschien seine Biografie als Hörbuch beim Verbrecher Verlag:
„Ein gutes Leben – Zoni Weisz erzählt seine Biografie“

 

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