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Roma-Aktivisten 2.0
Gastkommentar von Samuel Mago
#RomaLivesMatter #SoKeresEuropa #PutrenLeJakha
Hashtags wie diese sind aus dem Leben eines Roma-Aktivisten im Jahre 2016 kaum mehr wegzudenken. 45 Jahre nach dem ersten Roma-Weltkongress wird der 8. April wohl vor allem als Geburtsstunde des Aktivismus der Roma und Romnja gefeiert – auch wenn heute viele gar nicht so recht wissen, was an diesem berüchtigten Tag im Jahre 1971 genau geschah und was die neue Generation der Roma-Aktivisten 2.0 zu feiern hat.
Facebook, Instagram und Skype – das sind die wichtigsten Werkzeuge junger Roma, die sich heute für die Rechte ihrer Minderheit stark machen. Waren es ’71 noch eine Handvoll engagierter Roma und Romnja, die sich als Delegation neun europäischer Länder in Orpington bei London versammelten, um über die Herausforderungen ihrer Minderheit zu debattieren und Entscheidungen für ihre Zukunft zu treffen, sind es heute viele hunderte Jugendliche und junge Erwachsene, die es sich zum Ziel erklärt haben, für eben diese Minderheit zu kämpfen. Und genau das Wort „kämpfen“ fällt in der heutigen Zeit ständig, sobald man beginnt, Roma-Aktivismus zu thematisieren. Die Anhänger der Romani Youth Movements sehen es nämlich nicht mehr als ihren Beruf oder ihre Berufung, im Interesse der Roma zu handeln und zu arbeiten. Vielmehr sehen sie es als einen Kampf für ihre eigenen Rechte und die Rechte ihrer Minderheit. Einen Kampf, der wohl in den Siebzigerjahren begann und noch heute gefochten werden muss.
Unten grün, oben blau, in der Mitte ein rotes Rad. Die Roma-Fahne geht auf den ersten Roma-Weltkongress zurück und gehört heute zur Ausrüstung des Roma-Aktivisten 2.0. Sei es eine Demonstration, eine Kundgebung, ein Flashmob oder lediglich ein Selfie auf Facebook – die Flagge hat sich zum Symbol eines Volkes etabliert. Doch wie sehr sie auch ein Teil der modernen „Roma-Kultur“ sein mag, ist das Hissen dieser Fahne eine kontroverse Angelegenheit. Sind wir denn nicht Teil der Nationen der Länder, in denen unsere Familien seit hunderten von Jahren und dutzenden von Generationen leben? Bin ich als ungarischer Rom nicht Ungar und als deutsche Sinteza nicht Deutsche? So mancher Aktivist geht daher vorsichtig mit diesem viel debattierten Stück Baumwolle um, wenn es heißt „das Volk der Roma“.
Und dann wird die Hymne gesungen. Auf jeder Jugendbegegnung, auf jeder Demo, auf jeder Kundgebung und jeder Gedenkfeier. Das Lied einer Nation, die es nun gar nicht gibt, oder eben schon. Das Lied, das als Erbe des Kongresses von ’71 bis heute in den Ohren der Aktivisten klingt und so manchen schon längst aus den Ohren heraushängt. Und wir fragen uns, wie lange wir noch „Gehen, gehen“ müssen und ob wir nicht schon genug „Gegangen, gegangen“ sind. Und nach dem hundertsten „Djelem, Djelem“ bitten uns die djelähmten Organisatoren diverser Veranstaltungen, dieses Lied doch bitte nicht mehr bei jeder Djelegenheit zu singen, wenn es heißt „das Volk der Roma“.
Doch wer ist denn nun das Volk der Roma? Wir haben uns doch gerade geeinigt, dass wir Ungarn sind, Deutsche, Rumänen, Franzosen, Serben und Schweden. Aber können wir nicht viel mehr sein als das? Kann ich nicht eine rumänisch-französische Romni buddhistischen Glaubens sein, die in Wien lebt? Oder ein österreichisch-ungarischer Rom aus Budapest, dessen Großvater Jude war? Warum beschränken wir uns auf Wörter wie „Nation“, „Ethnie“ oder „Volk“, wenn wir doch Teil einer paneuropäischen Gesellschaft sind, deren Kultur wir seit Jahrhunderten geprägt und mitgestaltet haben?
Wir sollten doch stolz sein, dass unsere Vorfahren spanischen Flamenco und französischen Jazz zu dem gemacht haben, was sie heute sind. Dass heute jedes Kind „Lollipop“ sagt, weil unsere Vorfahren den loli phabaj, den kandierten roten Apfel, auf britischen Jahrmärkten verkauften. Dass die Rede eines Rom – die Rede des berühmtesten Filmemachers der Welt – über Demokratie, Menschlichkeit und Toleranz aus dem Jahre 1940 in einer Parodie des deutschen Führers als erstes Video auf Youtube auftaucht, sobald man „greatest speech ever“ in die Suchmaschine tippt. Wir sollten uns vergewissern, dass wir Europäer sind. Bürger einer europäischen Gesellschaft, die Anspruch auf ihr europäisches Recht und ihr Menschenrecht haben.
Rufen wir mit #PutrenLeJakha die Menschen auf, ihre Augen nicht vor Rassismus und Antiziganismus zu verschließen. Halten jedoch auch wir sie offen, wenn einer jungen Romni von alten Männern das Wort abgeschnitten wird. Machen wir mit #RomaLivesMatter darauf aufmerksam, dass Antiziganismus auch im 21. Jahrhundert allgegenwärtig ist und Gewalt gegen Roma stetig zunimmt. Vergessen wir jedoch nicht die Gewalt gegen Flüchtlinge, Schwule und Lesben, Juden und Muslime. Fragen wir mit #SoKeresEuropa die Politiker der Europäischen Union, warum sie noch immer zusehen, wie 12 Millionen Menschen unter Rassismus und Unterdrückung leiden. Lassen wir jedoch nicht außer Acht, dass wir unsere Stimmen selbst gegen Ungerechtigkeit und Menschenrechtsverletzungen erheben können und müssen. Denn es liegt auch in unseren Händen, die europäische Gesellschaft, ihre Werte und Zukunft mitzugestalten und – wie bereits Chaplin forderte – für Demokratie, Menschlichkeit und Toleranz für alle Menschen einzustehen.
Aber was ist denn dann das Erbe des 8. April 1971, wenn nicht die Fahne, die Hymne und das Volk? Feiern wir nicht genau diese neuen Errungenschaften der wohl ersten Roma-Aktivisten am Internationalen Roma Tag? Ich meine: Nein.
Wir feiern das Lauterwerden einer neuen Stimme. Wir feiern den Mut junger Roma und Romnja, sich zu ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu bekennen und die dazugehörigen Bürden auf sich zu nehmen – damals so wie heute. Die Bürden, mit Rassisten am Stammtisch zu diskutieren. Die Bürden, Politiker von der Wichtigkeit eines Mahnmals oder eines neuen Straßennamens zu überzeugen. Die Bürden, auf Facebook & Co. Freunde löschen zu müssen, weil ihre Posts vor Antiziganismus, Antisemitismus oder Hetze gegen Flüchtlinge strotzen. Die Bürden, in einem Klassenzimmer Mitschüler und Lehrer darüber aufzuklären, dass es in Ordnung ist, Rom oder Romni zu sein.
Und somit feiern wir am 8. April 2016 nicht die Roma-Fahne, nicht die Roma-Hymne und nicht das sogenannte „Volk der Roma“. Wir feiern jeden Menschen, der sich für diese Minderheit einsetzt. Wir feiern jene jungen Roma, die ihre Stimmen erheben, und jene alteingesessenen Romnja, die uns den Weg dafür geebnet haben. Wir feiern jene Roma-Omas und -Opas, jene Onkel, Tanten, Väter und Mütter, die uns so lange im Nacken sind, bis wir unseren Schulabschluss, Bachelor, Magister oder PhD in der Hand haben, damit es uns einmal besser geht als ihnen und damit wir zeigen können, dass auch wir Roma Großes erreichen, wenn man uns lässt.
Wir feiern jene Nicht-Roma, die mit uns gemeinsam den Ceija-Stojka-Platz in Wien eröffnen und ihre Zeitungsartikel gewissenhaft mit und nicht über uns schreiben und jene Nicht-Romnja, die bis zuletzt auf der Antiziganismus-Demo in Cluj neben uns gehen und mit uns gemeinsam die ausgebrannten Kerzen nach der Gedenkfeier in Auschwitz wegräumen.
Wir feiern jene Freunde, die sich unsere Monologe über Antiziganismus und die Geschichte der Roma auch zum fünfzigsten Mal anhören und jene Freundinnen, die uns dabei unterstützen, für die Rechte dieser Minderheit zu kämpfen. Wir feiern jene Politiker, die sich dafür einsetzen, dass der Genozid an den Roma und die Existenz des Antiziganismus vom Europäischen Parlament und dem Europarat anerkannt werden. Und wir feiern jede Roma-Aktivisten 2.0 aus allen Ecken und Winkeln Europas, die mit uns auf Facebook, Instagram und Skype täglich einen virtuellen Roma-Weltkongress abhalten.
Waren es ‘71 noch eine Handvoll engagierter Roma und Romnja, die sich als Delegation neun europäischer Länder in Orpington bei London versammelten, sind es heute viele hunderte Jugendliche und junge Erwachsene, die es sich zum Ziel erklärt haben, für diese Minderheit zu kämpfen. Heute, am 8. April 2016, ist ein Tag an dem wir feiern, was wir durch unsere Kämpfe erreicht haben. Bereits 1940 sagte Charlie Chaplin in seinem Film „Der große Diktator“:
„Lasst uns kämpfen für eine neue Welt, eine anständige Welt, die allen Menschen Arbeit bietet, der Jugend eine Zukunft und den Alten Sicherheit. […] Lasst uns kämpfen […] für das Ende von Gier, von Hass und Intoleranz!“
Und heute, am 8. April 2016, ist ein Tag, an dem wir in die Zukunft blicken und uns vorstellen, dass es morgen vielleicht besser sein könnte, wenn wir den Kampf fortsetzen, der wohl 1971 begann.
#Happy8April #Baxtalo8Aprilo
Samuel Mago ist freier Journalist und engagiert sich als Roma-Aktivist im Verein Romano Centro. Der ungarische Rom lebt in Österreich und studiert Translationswissenschaften an der Universität Wien. Er gibt Workshops gegen Antiziganismus und schreibt für das jüdische Magazin NU.
2014 war er Sieger des Redewettbewerbs „SAG’S MULTI“ mit einer Rede über Roma, Antiziganismus und Toleranz: Rede von Samuel Mago (Video).
In seiner Erzählung „Zeuge der Freiheit“, für die Samuel Mago 2015 den exil-jugend-literaturpreis erhielt, erzählt er die Geschichte einer Roma-Familie, die in den Sechzigerjahren aus dem (bürger-)kriegsgeschüttelten Budapest flieht. Sie ist erschienen bei edition exil.
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